Schlagwortarchiv für: Versorgung

Psychische Gesundheit junger Menschen in Krisenzeiten besser schützen

Ethikrat legt Handlungsempfehlungen vor

(BPtK) Der Deutsche Ethikrat fordert, in gesellschaftlich schwierigen Zeiten junge Menschen stärker im Blick zu halten und ihre psychische Gesundheit besser zu schützen. Kinder und Jugendliche hätten unter der Corona-Pandemie in besonderem Maße gelitten. Es sei zu wenig getan worden, um sie bei der Bewältigung der psychischen Belastungen zu unterstützen. Dies habe dazu geführt, dass sich ihre psychische Gesundheit verschlechtert habe.

Der Ethikrat kommt zu dem Schluss, dass dieses Versäumnis zum Anlass genommen werden müsse, um zukünftig die Belange der Jüngeren stärker zu gewichten. Das gelte aktuell für die Energieversorgungskrise in der Folge des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine und in besonderer Weise mittel- und langfristig für die Bewältigung der Klimakrise.

Um zukünftig die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in gesellschaftlichen Krisen besser zu schützen, empfiehlt der Ethikrat:

  1. Regelhaft psychologische und psychosoziale Beratungsangebote in Schulen,
  2. Verlässliche Finanzierung und personelle Ausstattung von Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, Erziehungsberatungsstellen sowie Einrichtungen der Krankenbehandlung,
  3. Informationskampagnen über psychische Gesundheit und Krankheit und das Hilfesystem in den Lebenswelten der Kinder,
  4. Kostenfreie Freizeitangebote, insbesondere für Kinder in schwierigen Lebenslagen,
  5. Schulung von Erzieher*innen und Lehrer*innen mit Blick auf die Prävention psychischer Belastungen und Erkrankungen,
  6. Zeitnahe konkrete Pläne zum Abbau bestehender Defizite in der Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher,
  7. Ausbau sektorenübergreifender, multiprofessioneller Versorgungsnetze,
  8. Konsequenter Einbezug der wesentlichen Lebensweltbezüge der Kinder (z. B. Familie) in alle Beratungs- und Hilfsangebote,
  9. Förderung von Forschung zu den Folgen von Maßnahmen zur Bewältigung gesellschaftlicher Krisen,
  10. Etablieren von Formen altersgemäßer Partizipation bei der Krisenbewältigung.

Klimakrise und Weiterbildung

41. Deutscher Psychotherapeutentag in Berlin

(BPtK) Der 41. Deutsche Psychotherapeutentag (DPT) tagte am 18. und 19. November 2022 in Berlin. Sein Hauptthema war die Klimakrise, „weil diese die Psychotherapeut*innen als Bürger*innen, in ihrer Berufsausübung und als Profession beschäftigen muss“, wie die Versammlungsleiterin Birgit Gorgas feststellte. Weiteres Thema war die Umsetzung der Weiterbildung, deren ausreichende Finanzierung der DPT dringend forderte.

Gemeinsame Pressekonferenz mit der Behandlungsinitiative Opferschutz (BIOS-BW)

Versorgungslücke für Betroffene von Gewalt- und Sexualstraftaten – Landespressekonferenz 09.09.2022

(LPK BW) Wie LPK-Präsident Dr. Dietrich Munz ausführte, ist aus Sicht der LPK Baden-Württemberg die flächendeckende Einrichtung von Traumaambulanzen sinnvoll und notwendig. Diese Hilfe sollte i.d.R. sehr zeitnah, innerhalb weniger Tage nach dem traumatischen Ereignis stattfinden. Die Hilfestellung in den Traumaambulanzen habe deshalb primär das präventive Ziel, die Häufigkeit von psychischen Störungen nach einem Trauma zu reduzieren, d.h. den Menschen eine schnelle Hilfe anzubieten, damit sie diese Belastungssituation besser bewältigen können, um so auch eine psychische Störung zu vermeiden.

Auf den ersten Blick erscheint es eine Aufgabe niedergelassener Psychotherapeut*innen zu sein, Menschen nach einer Traumatisierung zu helfen. Wie Kammerpräsident Dr. Dietrich Munz weiter ausführte, ist „die oft extreme psychische Belastung nach einer Traumatisierung keine Krankheit, sondern Teil der Traumabewältigung“. Dafür benötigten Betroffene rasche und niederschwellige Hilfe, die von niedergelassenen Psychotherapeut*innen i.d.R. nicht sichergestellt werden kann. In der Bewältigungsphase sollte deshalb auch keine Diagnose einer psychischen Erkrankung gestellt werden und die Hilfe bedeute auch keine Krankenbehandlung. Diese sei erst dann erforderlich bzw. müsse dann erfolgen, wenn sich aus der Traumatisierung eine psychische Störung entwickle. Weitere Infos zur Pressekonferenz finden Sie auf der BIOS-Homepage.

Enquetekommission „Krisenfeste Gesellschaft“ der Landesregierung

Stellungnahme der LPK BW

(LPK BW) Die Landesregierung Baden-Württemberghatte bereits im Februar dieses Jahres eine Enquetekommission mit dem Titel „Krisenfeste Gesellschaft“ eingesetzt. Ihr Ziel es ist, „Handlungsempfehlungen zu erarbeiten, die … das baden-württembergische Gemeinwesen für die Zukunft resilienter und krisenfester“ aufstellen kann. Hierzu wurde auch die LPK gebeten, zu dem auf den Bereich Gesundheit bezogenen Themenfeld (eines von vier Themenfeldern) Stellung zu beziehen. Die Infos zur Einsetzung der Kommission finden Sie in der Landtagsdrucksache 17/1816 vom 07.02.2022 (https://bit.ly/3WQDhbd), weitere Infos der Landesregierung auf der Homepage des Sozialministeriums sowie unsere Stellungnahme hier zum Download.

Digitales Teilen der klinischen Dokumentation und der elektronischen Akte mit Nutzer*innen psychiatrischer, psychosomatischer und psychotherapeutischer Behandlung (“OpenNotes”) – ein Online-Survey

Teilnehmer*innen gesucht

(LPK BW) OpenNotes ist eine aus den USA stammende Bewegung, die darauf zielt, Patient*innen Zugriff auf ihre elektronische Patient*innenakte (ePA) zu verschaffen. Hierdurch soll der Behandlungsprozess transparenter und mehr auf Augenhöhe gestaltet werden. Dies schließt die Behandlungsnotizen bzw. therapeutische Dokumentation mit ein.  Zunehmend werden OpenNotes auch in europäischen, insbesondere den skandinavischen Ländern, implementiert. Dennoch gibt es im Bereich der seelischen Gesundheit eine Debatte darüber, ob Patient*innen bedingungslosen Zugang zur Behandlungsdokumentation erhalten sollten oder nicht.

Ziel der Studie ist es, die Meinungen von ambulanten und stationären Behandler*innen gegenüber dem digitalen Teilen der klinischen Dokumentation und der elektronischen Patient*innenakte (ePA) mit Nutzer*innen psychiatrischer, psychosomatischer und psychotherapeutischer Versorgung zu untersuchen. Für die Teilnahme an dieser Studie, die ungefähr 15 Minuten dauert, wird kein Vorwissen über OpenNotes benötigt. Stattdessen sind wir an Ihren Meinungen über mögliche Auswirkungen von OpenNotes auf Ihre Praxis interessiert.

Sollten Sie sich für die Teilnahme entscheiden, werden zunächst nicht identifizierbare soziodemographische Angaben (Geschlecht, Alter, u.a.) abgefragt. Anschließend folgen überwiegend Multiple-Choice-Fragen zu Ihren Einstellungen, Erwartungen, Vorbehalten und etwaigen Erfahrungen mit OpenNotes. Wir würden uns über Ihre Antworten freuen!

Der Fragebogen ist über folgenden Link erreichbar:  https://zvfbb.limequery.org/372578?lang=de und ist bis zum 30.12.2022 online.

Die Studie läuft als Teilprojekt der Studie “Pilotierung und Evaluation einer partizipativen Patient*innenakte in der Psychiatrie”(PEPPPSY) und wird an der Medizinischen Hochschule Brandenburg (MHB) durchgeführt.

 

Depressive Menschen lange ohne Behandlung

Deutschland-Barometer Depression 2022 veröffentlicht

(BPtK) Rund 20 Monate dauert es im Schnitt, bevor sich Menschen mit einer depressiven Erkrankung Hilfe suchen. Das hat eine repräsentative Befragung der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention ergeben. In der mittlerweile sechsten Erhebung des Deutschland-Barometer Depression wurden über 5.000 Erwachsene zu ihren Einstellungen und Erfahrungen zur Depression befragt.

In der Hälfte der Fälle war die Hausärzt*in die erste Anlaufstelle der Patient*innen. Jede Vierte* suchte direkt eine Fachärzt*in auf. Rund jede fünfte Befragte* mit diagnostizierter Depression wandte sich unmittelbar an eine Psychotherapeut*in. Nur sehr wenige (0,3 Prozent) nahmen mit den Termin-Servicestellen der Kassenärztlichen Vereinigung Kontakt auf – in zwei von drei Fällen wurde vom Patientenservice dann auch eine Therapie vermittelt.

Es gab große Unterschiede, wie lange depressive Menschen ohne Behandlung und auf sich allein gestellt waren. Ein Drittel der Befragten mit diagnostizierter Depression kümmerte sich sofort um Hilfe. Zwei Drittel gaben allerdings an, dass es sehr lange gedauert habe – im Schnitt rund 30 Monate. Befragte berichteten von wochenlangen Wartezeiten auf eine Behandlung. Auf die Behandlung bei einer Fachärzt*in warteten sie rund acht Wochen, auf die Behandlung bei einer Psychotherapeut*in zehn Wochen. Im Durchschnitt hätten sie fünf Therapeut*innen kontaktieren müssen, um einen Behandlungsplatz zu finden. Die Hälfte der Befragten berichtete, dass sie Kompromisse machen musste, um überhaupt einen Therapieplatz zu bekommen.

„Auch die neue Nationale Versorgungsleitlinie Depression betont, dass Psychotherapie eine der Grundsäulen bei der Behandlung von Depressionen ist. Dass 85 Prozent der befragten Patient*innen mit Depression Psychotherapie als hilfreich oder eher hilfreich empfinden, zeigt nur, wie wichtig die psychotherapeutische Behandlung für die Betroffenen ist“, so Dr. Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK). „Dass mitunter Jahre vergehen, bevor Betroffene wirksame Hilfe erhalten, ist erschreckend und inakzeptabel.“

Vertreterversammlung LPK Baden-Württemberg am 21./22.10.2022

(LPK BW) Die Vertreterversammlung (VV) begann am Freitagnachmittag mit dem TOP „Legalisierung von Cannabis“. Kammerpräsident Dr. Dietrich Munz führte in das Thema ein. Laut Koalitionsvertrag soll Cannabis legalisiert werden. Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) hat dazu bereits eine Stellungnahme an den Gesetzgeber abgegeben. Die Profession sei also angefragt, sich zu diesem Gesetzesvorhaben zu äußern. Max Bernecker (BPtK) referierte zum Thema den Forschungsstand sowie sich daraus ergebende mögliche Argumente für oder gegen eine Legalisierung. Die VV diskutierte das Für und Wider einer Legalisierung, Befürchtungen aber auch Hoffnungen bezüglich der Wirkung einer Legalisierung wurden benannt. Übereinstimmung bestand darin, dass eine Legalisierung ohne deren Einbettung in eine Drogen- und Suchtpolitik mit entsprechenden Präventionsmaßnehmen in jedem Fall zu kurz greift.

Als zweiter Punkt stand die Neuregelung der Sterbehilfe auf der Tagesordnung.  Dr. Munz führt kurz in das Thema ein und berichtet den aktuellen Stand. Es gibt derzeit seitens der Politik drei aktuelle Entwürfe, die sich z.T. unterscheiden. Die Profession sei angefragt und müsse zur Legalisierung der Sterbehilfe Position beziehen.

Dr. Jan Glasenapp hielt einen Vortrag zum Thema. Er machte deutlich, dass Suizidwünsche als Ausdruck der Autonomie und nicht nur als Krankheitssymptom verstanden werden sollten. Dabei sei das Spannungsfeld zwischen Autonomie und Verantwortung zu sehen. In der anschließenden Diskussion wurde die Bedeutung einer Suizidprävention betont, aber auch die Wichtigkeit, dieses Thema schon in der Aus- und auch Weiterbildung zu vermitteln.

Drittes Thema war anschließend die Nutzung digitaler Medien in der Psychotherapie sowie in der Fort- und Weiterbildung. In der Diskussion wurde festgestellt, dass es bisher keine Regelung zu Nutzung von digitalen Medien in Aus-, Fort- und Weiterbildung gibt. Die Coronapandemie hat eine Dynamik ausgelöst, hin zu sehr verstärkter Nutzung digitaler Kommunikationsformen in verschiedenen Zusammenhängen. Die Frage wurde gestellt, ob die Berufsordnung nicht überarbeitet werden sollte, um Regelungen zur Nutzung dieser Medien verbindlich festzulegen. Bliebe alles ungeregelt, dann bestehe die Gefahr, dass sich marktwirtschaftliche Interessen durchsetzen, bei denen dann eine Qualitätssicherung nicht mehr zu gewährleisten sei.

Der Samstag stand dann im Zeichen des Vorstandsberichtes und der Haushaltsdebatte. Breiten Raum nahm bei der Diskussion des Vorstandsberichtes die Umsetzung der neuen Weiterbildungsordnung ein. Erfreulicherweise konnte mitgeteilt werden, dass das Sozialministerium die im Frühjahr verabschiedete Weiterbildungsordnung genehmigt hat. Somit kann die Weiterbildungsordnung nach ihrer Verkündung durch die Kammer zum 01.01.2023 in Kraft treten.

Weiterer Punkt im Vorstandsbericht war der Stand der Überlegungen zur Einrichtung von Kreispsychotherapeutenschaften. Dazu stellte der Vorstand in Absprache mit den Listensprechern, welche die bisherigen Überlegungen gemeinsam mit dem Vorstand in einer Arbeitsgruppe entwickelt hatten, einen Antrag. Darin soll der Vorstand und die Arbeitsgruppe beauftragt werden, bis zur Vertreterversammlung im März 2023 zu klären, ob und welche Änderungen im Heilberufekammergesetz zur Etablierung regionaler Psychotherapeutenschaften erforderlich sind. Zudem soll ein Entwurf für eine erforderliche Änderung der Hauptsatzung der LPK BW sowie ein Entwurf für eine mögliche Satzung für regionale Psychotherapeutenschaften vorgelegt werden. Eine Abschätzung der entstehenden Kosten soll ebenfalls erfolgen. Dieser Antrag wurde einstimmig angenommen.

Im Rahmen der Diskussion des Vorstandsberichtes brachte die „Freie Liste“ eine Resolution zur Gebührenordnung für Psychotherapeuten (GOP) ein (siehe pdf zum Download). Darin wird gefordert, dass der Minister für Soziales, Gesundheit und Integration, Manfred Lucha, bei den Beihilfestellen des Landes interveniert, dass künftig ein Steigerungsfaktor bis zum 3,5-fachen Satz ohne Begründung akzeptiert wird. Die Resolution wurde einstimmig angenommen.

Mit der Vorstellung und Diskussion der Haushalte von 2021, 2022 und 2023 und der Verabschiedung der im Vergleich zum Vorjahr unveränderten Beitragstabelle für 2023 endete die Vertreterversammlung.

Abbau der Wartezeiten in der Psychotherapie notwendig

Länder fordern gesetzliche Regelungen durch das BMG

(BPtK) Die Regierungschef*innen der Länder haben auf ihrer Jahrestagung aktuelle gesellschaftliche Probleme und Herausforderungen in den Blick genommen. Einer der sechs gefassten Beschlüsse betrifft die psychotherapeutische Versorgung insbesondere von Kindern und Jugendlichen. Die Länder fordern, schnelle gesetzliche Regelungen zu schaffen, um die zu langen Wartezeiten auf eine ambulante psychotherapeutische Behandlung kurzfristig zu reduzieren und die erheblichen Versorgungsunterschiede zwischen städtischen und ländlichen Regionen abzubauen. Hierbei betonen die Länder, dass sich die langen Wartezeiten auf eine psychotherapeutische Behandlung besonders stark auf psychisch kranke Kinder und Jugendliche auswirken, weshalb weitreichende negative Folgen für ihre schulische und berufliche Entwicklung zu erwarten sind. Die Versorgungsbedarfe von Kindern und Jugendlichen haben sich insbesondere durch die psychischen Belastungen infolge der Corona-Pandemie noch einmal verschärft.

„Wir freuen uns über das Engagement der Ministerpräsident*innen der Länder für eine bessere Versorgung psychisch erkrankter Menschen. Es ist an der Zeit, die im Koalitionsvertrag angekündigte Reform der Bedarfsplanung im Bereich der Psychotherapie endlich auf den Weg zu bringen“, fordert BPtK-Präsident Dr. Dietrich Munz. Ziel sollte es sein, mehr Psychotherapeutensitze in ländlichen und strukturschwachen Regionen – für Kinder und Jugendliche ebenso wie für Erwachsene – zu schaffen und so die aktuelle Unterversorgung abzubauen.

Versorgungsengpässe in der ambulanten Psychotherapie

Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages belegt lange Wartezeiten

(BPtK) Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat in einem aktuellen Bericht zahlreiche Studien und Umfragen zusammengetragen, die die langen Wartezeiten in der ambulanten Psychotherapie belegen. „Die Zusammenschau aller Studien macht deutlich, dass dringender Handlungsbedarf für eine Reform der Bedarfsplanungs-Richtlinie besteht, mit der zusätzliche Sitze insbesondere in ländlichen und strukturschwachen Regionen geschaffen werden sollten“, fordert Dr. Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK). Neben bundesweiten Erhebungen werden in der Dokumentation auch Auswertungen zur Situation der psychotherapeutischen Versorgung in ausgewählten Bundesländern zusammengetragen.

Auswahl zitierter Studien, die die langen Wartezeiten in der Psychotherapie belegen:

Übernahme von Krankenhausdiensten durch Psychotherapeut*innen

BPtK-Workshop zu bereits existierenden Praxismodellen

(BPtK) In den psychiatrischen und psychosomatischen Krankenhäusern besteht bereits jetzt ein akuter Ärztemangel. Das verändert die Rolle der Psychotherapeut*innen in den Kliniken. Psychotherapeut*innen entwickeln sich zu einer entscheidenden Säule der stationären Versorgung. Dies wird sich durch die neue psychotherapeutische Weiterbildung noch verstärken. Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) hat deshalb am 20. September 2022 einen digitalen Workshop durchgeführt, bei dem bereits existierende Praxismodelle vorgestellt und vor dem Hintergrund der bisherigen rechtlichen Rahmenbedingungen mit den Teilnehmer*innen diskutiert wurden.

„Psychotherapeut*innen zu einer Partner*in auf Augenhöhe für die ärztlichen Kolleg*innen zu machen, erfordert auch, die Frage nach der Einbindung von Psychotherapeut*innen in Bereitschafts- und Notdienste zu diskutieren“, meinte Dr. Georg Kremer, Psychotherapeut und Mitglied des BPtK-Ausschusses „Psychotherapie in Institutionen“ in seiner Einführung.

Praxismodelle

Im Evangelischen Klinikum Bethel in Bielefeld entlasten Psychotherapeut*innen bereits seit 2017 ihre ärztlichen Kolleg*innen bei der Aufnahme der Patient*innen und bei Kriseninterventionen nach Ende der regulären Arbeitszeit. „Die Dienste sind zunächst befristet eingeführt worden“, erläuterte Svenja Papenbrock, leitende Psychotherapeut*in in Bielefeld. „Die anfängliche Skepsis bei den Kolleg*innen – ärztlichen wie psychotherapeutischen – ist jedoch schnell gewichen.“ Die Erfahrung, dass Psychotherapeut*innen den Diensten gut gewachsen seien, hätte dazu geführt, dass diese Dienste in die Regelversorgung überführt worden sind. Für die Dienste verschiebt sich die reguläre Arbeitszeit der diensthabenden Psychotherapeut*in circa einmal monatlich auf 13 bis 22 Uhr. Der Dienst der Krisenintervention beginnt dann ab 17 Uhr. Gemeinsam mit der diensthabenden Pflegefachperson und Ärzt*in ist die Psychotherapeut*in für alle akuten Anfragen und Aufnahmen zuständig, die ohne Termin von außen kommen.

In der Kinder- und Jugendpsychiatrie Riedstadt übernehmen Psychotherapeut*innen 24-stündige Bereitschaftsdienste. In diesem Dienst ist die Psychotherapeut*in für alle Krisen- und Notfälle zuständig. Eine Oberärzt*in ist im Hintergrunddienst jederzeit telefonisch erreichbar und kommt, wenn erforderlich, in die Klinik. „Dies kommt aber äußerst selten vor“, stellt Susanne Rosenzweig, leitende Psychotherapeutin in Riedstadt, fest. Für die Verschreibung von Medikamenten hat die Oberärzt*in auch von außerhalb Zugriff auf das Dokumentationssystem der Klinik. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle lassen sich die Krisensituationen aber psychotherapeutisch auffangen.

Ähnliche Erfahrungen liegen aus der Allgemeinpsychiatrie des St. Elisabeth Krankenhauses Gerolstein vor. In einem Pilotprojekt konnte die Einführung des psychotherapeutischen Bereitschaftsdienstes dort sogar dazu beitragen, Fixierungen und Zwangsmaßnahmen zu verringern. „Psychotherapeutische Interventionen sind in Krisensituationen ungemein hilfreich und können wesentlich zur Deeskalation beitragen – auch bei Notaufnahmen in der Nacht“, ist Yvonne Hoffmeister, leitende Psychotherapeutin des St. Elisabeth Krankenhauses, überzeugt.

Die Beispiele verdeutlichten, dass Psychotherapeut*innen über die notwendigen Kompetenzen zur Übernahme von Diensten verfügen. Diese Erfahrung macht auch die psychosomatische Sonnenbergklinik in Stuttgart seit ihrer Gründung. Dort seien Psychotherapeut*innen gleichberechtigt mit ihren ärztlichen Kolleg*innen in den Wochenend-Bereitschaftsdienst eingebunden, unterstützt durch einen oberärztlichen Hintergrunddienst, berichtete Dr. Dietrich Munz, Präsident der BPtK.

Selbstverständnis als „Versorger“

Die Praxismodelle machen deutlich, dass zum Selbstverständnis der Psychotherapeut*innen neben der psychotherapeutischen Behandlung der Patient*innen auch die Verantwortung für die Übernahme von Diensten, zum Beispiel in der Nacht, zählen kann.

Alle Referent*innen sahen sich in der gemeinsamen Verantwortung für die gesamte Versorgung der Patient*innen. Dieses breitere Selbstverständnis unterstützte auch der ärztliche Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen. Für Psychotherapeut*innen, die im Krankenhaus arbeiten, müsste es in Zukunft normal sein, sich an allen Aufgaben eines Krankenhauses zu beteiligen – und hierzu gehöre die Versorgung der Patient*innen 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche.

Entscheidend sind Approbation und persönliche Kompetenz

Voraussetzung für die Einbindung von Psychotherapeut*innen in Dienste des Krankenhauses sollten aus fachlichen, aber auch aus rechtlichen Gründen die Approbation als Psychotherapeut*in und die persönliche Kompetenz sein, so Dr. Martin Liebig, Syndikusanwalt eines großen Klinikträgers. Der Gesetzgeber lasse dem Krankenhaus weitgehende Spielräume für die fachliche Organisation der Behandlung. Das Krankenhaus sei verpflichtet, den fachlichen Standard jederzeit zu gewährleisten. Für die psychotherapeutische Behandlung sei dieser Standard – auch in Bereitschaftsdiensten – durch eine approbierte Psychotherapeut*in gewährleistet. Das Krankenhaus habe aber dafür Sorge zu tragen, dass die Schnittstelle zur somatischen und psychopharmakologischen Behandlung organisatorisch so gestaltet sei, dass auch hier der fachliche Standard gewährleistet ist. Die Sicherstellung jederzeit verfügbarer fachärztlicher Expertise durch einen Hintergrunddienst könne deshalb ausreichend sein.

Diskussion

In der Diskussion wurde deutlich, dass nicht in allen Kliniken die notwendigen Rahmenbedingungen für die Übernahme von Diensten geboten werden. So berichtete eine Kolleg*in, dass sie aufgrund ständiger Personalausfälle in ihrer Klinik sowohl in der ärztlichen als auch in der psychotherapeutischen Berufsgruppe immer wieder für bis zu 30 Patient*innen im Tag- und im Bereitschaftsdienst allein zuständig sei. Die Übernahme der Nachtdienste gingen zudem zulasten der psychotherapeutischen Behandlung am Tag, die dann entfallen müssten. Auch andere Teilnehmer*innen sahen die Gefahr, dass 24-stündige Bereitschaftsdienste der Psychotherapeut*innen die ohnehin schon geringe stationäre Psychotherapiedosis weiter verringern könnten. Auch müssten Bereitschaftsdienste angemessen vergütet werden. Die Bereitschaft, in Zukunft mehr Verantwortung, Aufgaben und Pflichten in den Kliniken zu übernehmen, sei aber grundsätzlich da. „Der Berufsstand kann sich künftig viel breiter in der stationären Versorgung verankern“, erklärte Tobias Michl, ehemaliger Mitarbeitervertreter und Betriebsrat im Krankenhaus. Die Psychotherapeut*innen hätten dafür die erforderlichen Kompetenzen, und der Mangel an ärztlichen Fachkräften böte gute Voraussetzungen, um zusätzliche Vergütungen und angemessene Arbeits- und Pausenregelungen durchzusetzen.