Prävention psychischer Erkrankungen im Kindesalter wichtig

RKI-Bericht zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen

(BPtK) Etwa jedes sechste Kind in Deutschland ist psychisch auffällig. Kinder, die Opfer von Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung geworden sind, haben zum Beispiel ein höheres Risiko, psychisch zu erkranken. Dagegen schützen ein enger familiärer Zusammenhalt sowie ein stabiles schulisches Umfeld Kinder davor, psychisch zu erkranken. Mit den Schutzfaktoren sinkt das Risiko für das Auftreten psychischer Auffälligkeiten, auch bei Kindern und Jugendlichen mit einer hohen Zahl an Risikofaktoren. Das ist ein Ergebnis des Schwerpunktberichts des Robert Koch-Instituts zur psychischen Gesundheit im Kindes- und Jugendalter. Für den Bericht wurden vor allem die bevölkerungsrepräsentativen Daten der KiGGS-Studie im Zeitraum 2003 bis 2017 analysiert.

Basierend auf den Ergebnissen hat das RKI Handlungsempfehlungen zur Prävention psychischer Erkrankungen formuliert. Hierzu gehören:

In der Familie:

  • Elternkompetenz stärken durch Elterntrainings sowie Erziehungs- und Familienberatung,
  • aufsuchende Familienhilfe durch intensive Beratung und Begleitung in der Familie,
  • Entwicklung einer Informationsstrategie, um Eltern zum Thema psychische Gesundheit aufzuklären.

In der Schule:

  • Stärkung emotionaler und sozialer Fähigkeiten der Schüler*innen,
  • Entwicklung von Programmen zur Stärkung der psychischen Gesundheitskompetenz aller schulischen Akteur*innen.

In der Kita:

  • Qualifizierung der Erzieher*innen zur Förderung sozialer und emotionaler Kompetenzen der betreuten Kinder,
  • Qualifizierung von Erzieher*innen zum Erkennen von Risikofaktoren sowie die Stärkung der Kommunikationskompetenz für Elterngespräche.

In der Kommune:

  • Bereitstellung sozial nachhaltigen, familiengeeigneten Wohnraums und eines qualitativ hochwertigen Lebensumfelds (unter anderem ausreichende Spiel- und Grünflächen),
  • Etablierung quartiers- oder stadtteilbezogener Peer-Projekte, in denen zum Beispiel Eltern oder Jugendliche Gesundheitsinformationen vermitteln,
  • Etablierung von Lots*innen, die Angebote zur Prävention psychischer Erkrankungen erklären und vermitteln.

„Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen sind Expert*innen für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Ihr Wissen und ihre Erfahrung sollte bei der Prävention psychischer Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter einbezogen werden“, fordert Dr. Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK). Der RKI-Bericht informiert auch über die Inanspruchnahme des Gesundheitssystems wegen psychischer Beschwerden bei Kindern und Jugendlichen. Aussagen über die Inanspruchnahme von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen konnten im RKI-Bericht jedoch nicht gemacht werden, da diese in dem Fragebogen nicht aufgeführt waren. Stattdessen wurden „Psycholog*innen“ und „Psychologische Psychotherapeut*innen“ gemeinsam in einer Frage berücksichtigt. „Die BPtK bedauert es, dass das RKI eine wesentliche Berufsgruppe, die im deutschen Gesundheitssystem psychisch kranke Kinder und Jugendliche behandelt, nicht berücksichtigt hat“, stellt Munz fest. „Wir würden uns freuen, wenn das RKI dies in zukünftigen Befragungen korrigiert.“

Praxis-Info „Videobehandlung“ aktualisiert

Empfehlungen zur Einzel- oder Gruppen-Psychotherapie

(BPtK) Die BPtK hat die Praxis-Info Videobehandlung aktualisiert. Die Praxis-Info soll Psychothe­rapeut*innen darüber informieren, unter welchen Voraussetzungen eine Behandlung per Video sowohl in der Einzel- als auch Gruppen-Psychotherapie erbracht werden kann. Darüber hinaus enthält die Praxis-Info:

  • Informationen über die rechtlichen Grundlagen der Videobehandlung,
  • Empfehlungen zur Praxisorganisation,
  • Hinweise zur Abrechnung und
  • Informationsblätter für Patient*innen und Sorgeberechtigte, die Psychotherapeut*innen aushändigen können.

Bundesrat für Finanzierung der stationären Weiterbildung

BPtK fordert auch Lösung für die ambulante psychotherapeutische Weiterbildung

(BPtK) Der Bundesrat hat die Bundesregierung aufgefordert, die stationäre psychotherapeutische Weiterbildung zu fördern. Die Personalkosten von Psychotherapeut*innen in Weiterbildung sollen berücksichtigt und in der Bundespflegesatz-Verordnung geregelt werden. Das hat der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Krankenhaus-Pflegeentlastungsgesetz (Bundesrats-Drucksache 460/22) vorgeschlagen. Auch die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) und die Landespsychotherapeutenkammern hatten sich nachdrücklich für eine solche Refinanzierung der psychotherapeutischen Weiterbildungsstellen eingesetzt.

Psychotherapeut*innen haben als Angehörige eines akademischen Heilberufs während der Weiterbildung Anspruch auf ein angemessenes Gehalt, das ihrer Qualifikation mit einem Masterabschluss und einer Approbation gerecht wird. Durch die vorgeschlagene Regelung des Bundesrates könnten psychiatrische und psychosomatische Kliniken die höheren Personalkosten für die Psychotherapeut*innen in Weiterbildung in den Budgetverhandlungen mit den Krankenkassen auch dann refinanzieren, wenn Planstellen bereits durch andere Psychotherapeut*innen oder Psychotherapeut*innen in Ausbildung besetzt sind. Da bereits Ende 2022 mit den ersten Absolvent*innen zu rechnen ist, muss der Gesetzgeber jetzt handeln. Dabei sollte er gleichzeitig auch die finanzielle Förderung der ambulanten psychotherapeutischen Weiterbildung regeln, die bisher ebenfalls fehlt.

Abbau der Wartezeiten in der Psychotherapie notwendig

Länder fordern gesetzliche Regelungen durch das BMG

(BPtK) Die Regierungschef*innen der Länder haben auf ihrer Jahrestagung aktuelle gesellschaftliche Probleme und Herausforderungen in den Blick genommen. Einer der sechs gefassten Beschlüsse betrifft die psychotherapeutische Versorgung insbesondere von Kindern und Jugendlichen. Die Länder fordern, schnelle gesetzliche Regelungen zu schaffen, um die zu langen Wartezeiten auf eine ambulante psychotherapeutische Behandlung kurzfristig zu reduzieren und die erheblichen Versorgungsunterschiede zwischen städtischen und ländlichen Regionen abzubauen. Hierbei betonen die Länder, dass sich die langen Wartezeiten auf eine psychotherapeutische Behandlung besonders stark auf psychisch kranke Kinder und Jugendliche auswirken, weshalb weitreichende negative Folgen für ihre schulische und berufliche Entwicklung zu erwarten sind. Die Versorgungsbedarfe von Kindern und Jugendlichen haben sich insbesondere durch die psychischen Belastungen infolge der Corona-Pandemie noch einmal verschärft.

„Wir freuen uns über das Engagement der Ministerpräsident*innen der Länder für eine bessere Versorgung psychisch erkrankter Menschen. Es ist an der Zeit, die im Koalitionsvertrag angekündigte Reform der Bedarfsplanung im Bereich der Psychotherapie endlich auf den Weg zu bringen“, fordert BPtK-Präsident Dr. Dietrich Munz. Ziel sollte es sein, mehr Psychotherapeutensitze in ländlichen und strukturschwachen Regionen – für Kinder und Jugendliche ebenso wie für Erwachsene – zu schaffen und so die aktuelle Unterversorgung abzubauen.

Cannabis-Legalisierung richtig, Gesundheitsschutz noch stärken

BPtK begrüßt Eckpunkte des Bundesgesundheitsministeriums

(BPtK) Cannabis ist nicht harmlos: Es kann, anders als früher angenommen, auch körperlich abhängig machen und birgt insbesondere das Risiko, an einer Psychose zu erkranken. Die bisherige Verbotspolitik ist jedoch gescheitert. Mehr als jede vierte Deutsche* hat schon mindestens einmal im Leben Cannabis als Rauschmittel genutzt. Jede zweite junge Erwachsene* (46,4 %) und jede zehnte Jugendliche* (10,4 %) hat dieses Rauschmittel schon einmal ausprobiert. Der Gebrauch von Cannabis nimmt seit Jahrzehnten zu – trotz Verbot und Strafen. Deshalb begrüßt die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) die Eckpunkte des Bundesgesundheitsministeriums, nach denen Cannabisgebrauch ab dem 18. Lebensjahr legalisiert wird.

„Ein legaler Verkauf ist besser als ein unkontrollierter Schwarzmarkt und ermöglicht erst einen ausreichenden Gesundheits- und Jugendschutz“, erklärt BPtK-Präsident Dr. Dietrich Munz. „Insbesondere ist ein Mindestalter von 18 Jahren unbedingt notwendig.“ Eine legale Abgabe von 20 bis 30 Gramm stellt einen guten Kompromiss dar, und verleitet nicht zum exzessiven Konsum. Ein Eigenanbau von bis zu drei Pflanzen wird schwer zu kontrollieren sein. Eine Höchstgrenze für den THC-Gehalt, der stärksten psychoaktiven Substanz des Cannabis, ist notwendig. Ein Verbot synthetischer Cannabinoide ist sehr wichtig, da hier die Gesundheitsgefahren am größten sind. Ein Verbot von mit THC-versetzten Nahrungsmitteln muss gesetzlich geregelt werden. Die Erfahrungen aus USA und Kanada zeigen, dass es zum Beispiel durch THC-Gummibärchen vermehrt zu versehentlichen Vergiftungen und Cannabisnotfällen kommen kann.

BPtK: Gesundheitsschutz weiter stärken

Die BPtK plädiert aber dafür, den Gesundheitsschutz noch weiter zu stärken. Dazu gehören:

  • Aufklärungs- und Anti-Stigma-Kampagnen zu Suchterkrankungen,
  • verpflichtende Aufklärungsprogramme zu Drogen an Schulen ab der sechsten Jahrgangsstufe,
  • Screening zur besseren Früherkennung von Drogenmissbrauch,
  • Suchtberatung als verpflichtendes Leistungsangebot der Kommunen,
  • ambulante Psychotherapie bei Suchterkrankungen ohne Einschränkungen ermöglichen,
  • Rehabilitationseinrichtungen zur Behandlung von Suchterkrankungen besser finanzieren,
  • spezielle Behandlungsangebote für suchtkranke Kinder und Jugendliche schaffen,
  • Therapie- und Versorgungsforschung bei Suchterkrankungen ausbauen.

Versorgungsengpässe in der ambulanten Psychotherapie

Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages belegt lange Wartezeiten

(BPtK) Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat in einem aktuellen Bericht zahlreiche Studien und Umfragen zusammengetragen, die die langen Wartezeiten in der ambulanten Psychotherapie belegen. „Die Zusammenschau aller Studien macht deutlich, dass dringender Handlungsbedarf für eine Reform der Bedarfsplanungs-Richtlinie besteht, mit der zusätzliche Sitze insbesondere in ländlichen und strukturschwachen Regionen geschaffen werden sollten“, fordert Dr. Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK). Neben bundesweiten Erhebungen werden in der Dokumentation auch Auswertungen zur Situation der psychotherapeutischen Versorgung in ausgewählten Bundesländern zusammengetragen.

Auswahl zitierter Studien, die die langen Wartezeiten in der Psychotherapie belegen:

Mehr als 1,8 Millionen Schüler*innen sind Opfer von Cyber-Mobbing

Aktuelle Studie des Bündnisses gegen Cyber-Mobbing mit der TK

(BPtK) Fast jedes fünfte Kind und jede fünfte Jugendliche* (17 Prozent) wurden schon im Internet oder in den sozialen Medien gemobbt. 2017 lag der Anteil noch bei 13 Prozent. Damit ist Cyber-Mobbing zu einem zunehmenden und dauerhaften Problem an Schulen und im privaten Umfeld von Kindern und Jugendlichen geworden. Zu diesem Ergebnis kommt die aktuelle Studie „Cyberlive IV – Cybermobbing bei Schülerinnen und Schülern“, die das Bündnis gegen Cyber-Mobbing in Kooperation mit der Techniker Krankenkasse (TK) veröffentlicht hat. Die Corona-Pandemie hat das Problem noch verschärft. So gaben 65 Prozent der Schüler*innen an, dass Cyber-Mobbing während der Corona-Pandemie zugenommen hat.

Cyber-Mobbing kann die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen massiv gefährden: Mehr als die Hälfte fühlte sich verletzt. 15 Prozent hatten deshalb schon zu Alkohol, Tabletten oder Drogen gegriffen und fast jede vierte Gemobbte* äußerte Suizidgedanken (24 Prozent).

„Präventionsangebote gegen Cyber-Mobbing an Schulen müssen ausgebaut werden“, fordert Dr. Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK). „Außerdem müssen Lehrer*innen und Eltern stärker darüber informiert werden, wie sie damit umgehen können, wenn ihr Kind Opfer von Cyber-Mobbing geworden ist“. Die BPtK hat in ihrem Elternratgeber „Internet“ Informationen über Cyber-Mobbing und Tipps für Eltern zusammengestellt: https://www.elternratgeber-internet.de/schwerpunkte/cyber-mobbing/.

Wirkung der Psychotherapie nach acht bis zwölf Wochen prüfen

3. Auflage der Nationalen Versorgungsleitlinie Unipolare Depression

(BPtK) Am 29. September 2022 wurde die 3. Auflage der Nationalen Versorgungsleitlinie Unipolare Depression veröffentlicht. Das Kapitel zur Psychotherapie wurde um weitere Empfehlungen ergänzt. So empfiehlt die Leitlinie nach acht bis zwölf Wochen die Wirkung der psychotherapeutischen Behandlung zu prüfen: „Bei ausbleibender Besserung im Sinne der vereinbarten individuellen Therapieziele sollen nach etwa acht bis zwölf Wochen mögliche Ursachen abgeklärt werden. Gemeinsam mit den Patient*innen soll über eine Anpassung des psychotherapeutischen Vorgehens gesprochen und entschieden werden.“

Außerdem soll bereits in der Sprechstunde oder spätestens in der Probatorik mit der Patient*in gemeinsam geklärt werden, welches psychotherapeutische Verfahren für die Patient*in angemessen ist. Dabei soll die Psychotherapeut*in in einem sozialrechtlich anerkannten Psychotherapieverfahren ausgebildet sein. Die Auswahl soll im direkten Kontakt mit den Patient*innen erfolgen und zum Beispiel nicht durch Case Manager von Krankenkassen.

Weitere Neuerungen in der Leitlinie betreffen einen Schwerpunkt zur Versorgungskoordination sowie Empfehlungen zu komplexen Versorgungsformen.

Die 3. Auflage der Leitlinie, an der auch die BPtK beteiligt war, gilt nun bis 29.September 2027.

Höhepunkt der psychischen Beschwerden erst 2022 erreicht

RKI-Studie zur psychischen Gesundheit während der Corona-Pandemie

(BPtK) Die psychischen Beschwerden während der Corona-Pandemie haben erst in diesem Jahr ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Das zeigen erste Auswertungen des Robert Koch-Instituts (RKI) in Berlin. Der Ausbruch der Virus-Infektion Anfang 2020 führte noch zu keiner Zunahme depressiver Beschwerden. Der Anteil der Personen mit depressiven Beschwerden ging sogar zwischen April und August 2020 zurück. Ihr Anteil stieg erst ab Herbst 2020 und dann im Winter 2021 und im Frühjahr 2022 an. Zwischen März und Juni 2022 gab fast jede fünfte Befragte* (17 Prozent) auffällige depressive Symptome an. Vor der Corona-Pandemie (Frühjahr und Sommer 2019) war es nur jede zehnte Befragte* (11 Prozent) gewesen. Auch der Anteil von Menschen mit auffälligen Angstsymptomen nahm zu: von sieben Prozent im Jahr 2021 auf 11 Prozent in 2022.

„Je länger die Bedrohung durch das Virus und die Einschränkungen des alltäglichen Lebens andauerten, desto mehr geriet die Bevölkerung an ihre Grenze“, stellt Dr. Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), fest. „Diese psychische Gefährdung kann sich in diesem Winter durch den Krieg in der Ukraine und eine zunehmende Armut noch verstärken. Die Widerstands- und Regenerationskräfte könnten weiter überfordert werden.“

Für die RKI-Studie waren von April 2019 bis Juni 2022 monatlich rund 1.000 bis 3.000 Erwachsene telefonisch befragt worden.

Übernahme von Krankenhausdiensten durch Psychotherapeut*innen

BPtK-Workshop zu bereits existierenden Praxismodellen

(BPtK) In den psychiatrischen und psychosomatischen Krankenhäusern besteht bereits jetzt ein akuter Ärztemangel. Das verändert die Rolle der Psychotherapeut*innen in den Kliniken. Psychotherapeut*innen entwickeln sich zu einer entscheidenden Säule der stationären Versorgung. Dies wird sich durch die neue psychotherapeutische Weiterbildung noch verstärken. Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) hat deshalb am 20. September 2022 einen digitalen Workshop durchgeführt, bei dem bereits existierende Praxismodelle vorgestellt und vor dem Hintergrund der bisherigen rechtlichen Rahmenbedingungen mit den Teilnehmer*innen diskutiert wurden.

„Psychotherapeut*innen zu einer Partner*in auf Augenhöhe für die ärztlichen Kolleg*innen zu machen, erfordert auch, die Frage nach der Einbindung von Psychotherapeut*innen in Bereitschafts- und Notdienste zu diskutieren“, meinte Dr. Georg Kremer, Psychotherapeut und Mitglied des BPtK-Ausschusses „Psychotherapie in Institutionen“ in seiner Einführung.

Praxismodelle

Im Evangelischen Klinikum Bethel in Bielefeld entlasten Psychotherapeut*innen bereits seit 2017 ihre ärztlichen Kolleg*innen bei der Aufnahme der Patient*innen und bei Kriseninterventionen nach Ende der regulären Arbeitszeit. „Die Dienste sind zunächst befristet eingeführt worden“, erläuterte Svenja Papenbrock, leitende Psychotherapeut*in in Bielefeld. „Die anfängliche Skepsis bei den Kolleg*innen – ärztlichen wie psychotherapeutischen – ist jedoch schnell gewichen.“ Die Erfahrung, dass Psychotherapeut*innen den Diensten gut gewachsen seien, hätte dazu geführt, dass diese Dienste in die Regelversorgung überführt worden sind. Für die Dienste verschiebt sich die reguläre Arbeitszeit der diensthabenden Psychotherapeut*in circa einmal monatlich auf 13 bis 22 Uhr. Der Dienst der Krisenintervention beginnt dann ab 17 Uhr. Gemeinsam mit der diensthabenden Pflegefachperson und Ärzt*in ist die Psychotherapeut*in für alle akuten Anfragen und Aufnahmen zuständig, die ohne Termin von außen kommen.

In der Kinder- und Jugendpsychiatrie Riedstadt übernehmen Psychotherapeut*innen 24-stündige Bereitschaftsdienste. In diesem Dienst ist die Psychotherapeut*in für alle Krisen- und Notfälle zuständig. Eine Oberärzt*in ist im Hintergrunddienst jederzeit telefonisch erreichbar und kommt, wenn erforderlich, in die Klinik. „Dies kommt aber äußerst selten vor“, stellt Susanne Rosenzweig, leitende Psychotherapeutin in Riedstadt, fest. Für die Verschreibung von Medikamenten hat die Oberärzt*in auch von außerhalb Zugriff auf das Dokumentationssystem der Klinik. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle lassen sich die Krisensituationen aber psychotherapeutisch auffangen.

Ähnliche Erfahrungen liegen aus der Allgemeinpsychiatrie des St. Elisabeth Krankenhauses Gerolstein vor. In einem Pilotprojekt konnte die Einführung des psychotherapeutischen Bereitschaftsdienstes dort sogar dazu beitragen, Fixierungen und Zwangsmaßnahmen zu verringern. „Psychotherapeutische Interventionen sind in Krisensituationen ungemein hilfreich und können wesentlich zur Deeskalation beitragen – auch bei Notaufnahmen in der Nacht“, ist Yvonne Hoffmeister, leitende Psychotherapeutin des St. Elisabeth Krankenhauses, überzeugt.

Die Beispiele verdeutlichten, dass Psychotherapeut*innen über die notwendigen Kompetenzen zur Übernahme von Diensten verfügen. Diese Erfahrung macht auch die psychosomatische Sonnenbergklinik in Stuttgart seit ihrer Gründung. Dort seien Psychotherapeut*innen gleichberechtigt mit ihren ärztlichen Kolleg*innen in den Wochenend-Bereitschaftsdienst eingebunden, unterstützt durch einen oberärztlichen Hintergrunddienst, berichtete Dr. Dietrich Munz, Präsident der BPtK.

Selbstverständnis als „Versorger“

Die Praxismodelle machen deutlich, dass zum Selbstverständnis der Psychotherapeut*innen neben der psychotherapeutischen Behandlung der Patient*innen auch die Verantwortung für die Übernahme von Diensten, zum Beispiel in der Nacht, zählen kann.

Alle Referent*innen sahen sich in der gemeinsamen Verantwortung für die gesamte Versorgung der Patient*innen. Dieses breitere Selbstverständnis unterstützte auch der ärztliche Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen. Für Psychotherapeut*innen, die im Krankenhaus arbeiten, müsste es in Zukunft normal sein, sich an allen Aufgaben eines Krankenhauses zu beteiligen – und hierzu gehöre die Versorgung der Patient*innen 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche.

Entscheidend sind Approbation und persönliche Kompetenz

Voraussetzung für die Einbindung von Psychotherapeut*innen in Dienste des Krankenhauses sollten aus fachlichen, aber auch aus rechtlichen Gründen die Approbation als Psychotherapeut*in und die persönliche Kompetenz sein, so Dr. Martin Liebig, Syndikusanwalt eines großen Klinikträgers. Der Gesetzgeber lasse dem Krankenhaus weitgehende Spielräume für die fachliche Organisation der Behandlung. Das Krankenhaus sei verpflichtet, den fachlichen Standard jederzeit zu gewährleisten. Für die psychotherapeutische Behandlung sei dieser Standard – auch in Bereitschaftsdiensten – durch eine approbierte Psychotherapeut*in gewährleistet. Das Krankenhaus habe aber dafür Sorge zu tragen, dass die Schnittstelle zur somatischen und psychopharmakologischen Behandlung organisatorisch so gestaltet sei, dass auch hier der fachliche Standard gewährleistet ist. Die Sicherstellung jederzeit verfügbarer fachärztlicher Expertise durch einen Hintergrunddienst könne deshalb ausreichend sein.

Diskussion

In der Diskussion wurde deutlich, dass nicht in allen Kliniken die notwendigen Rahmenbedingungen für die Übernahme von Diensten geboten werden. So berichtete eine Kolleg*in, dass sie aufgrund ständiger Personalausfälle in ihrer Klinik sowohl in der ärztlichen als auch in der psychotherapeutischen Berufsgruppe immer wieder für bis zu 30 Patient*innen im Tag- und im Bereitschaftsdienst allein zuständig sei. Die Übernahme der Nachtdienste gingen zudem zulasten der psychotherapeutischen Behandlung am Tag, die dann entfallen müssten. Auch andere Teilnehmer*innen sahen die Gefahr, dass 24-stündige Bereitschaftsdienste der Psychotherapeut*innen die ohnehin schon geringe stationäre Psychotherapiedosis weiter verringern könnten. Auch müssten Bereitschaftsdienste angemessen vergütet werden. Die Bereitschaft, in Zukunft mehr Verantwortung, Aufgaben und Pflichten in den Kliniken zu übernehmen, sei aber grundsätzlich da. „Der Berufsstand kann sich künftig viel breiter in der stationären Versorgung verankern“, erklärte Tobias Michl, ehemaliger Mitarbeitervertreter und Betriebsrat im Krankenhaus. Die Psychotherapeut*innen hätten dafür die erforderlichen Kompetenzen, und der Mangel an ärztlichen Fachkräften böte gute Voraussetzungen, um zusätzliche Vergütungen und angemessene Arbeits- und Pausenregelungen durchzusetzen.