Unabhängigkeit der UPD sicherstellen

BPtK zur heutigen Anhörung des UPD-Gesetzentwurfs

(BPtK) Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) unterstützt das Ziel, die Unabhängige Patientenberatung (UPD) in eine dauerhafte, staatsferne und unabhängige Struktur zu überführen.

Aus Sicht der BPtK ist die notwendige Unabhängigkeit der UPD im Gesetzentwurf (BT-Drs. 20/5334) der Bundesregierung jedoch aktuell nicht ausreichend sichergestellt. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-SV) soll als Stifter und Finanzierer vorgesehen werden und somit auch inhaltliche Gestaltungsrechte erhalten. Dabei sind die Krankenkassen häufiger Anlass, weshalb Patient*innen Beratung suchen. Als Stifter der UPD sollte stattdessen eine unabhängige, gemeinnützige Organisation eingesetzt werden und die Finanzierung aus dem Bundeshaushalt oder dem Steuerzuschuss zum Gesundheitsfonds erfolgen. Sollte der GKV-SV als Stifter und Finanzierer bestehen bleiben, muss der Einfluss des GKV-SV auf die inhaltliche Ausgestaltung der UPD weitgehend ausgeschlossen werden.

Die BPtK begrüßt, dass mit dem Gesetzentwurf auch regionale Beratungsangebote gestärkt werden sollen. Insbesondere bei komplexeren Beratungsanliegen und für Bürger*innen, die einen persönlichen Austausch suchen oder sogar benötigen, ist die Beratung vor Ort wichtig.

Der Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages berät heute den Gesetzentwurf in einer öffentlichen Anhörung.

Keine einzige Minute mehr an Psychotherapie für Patient*innen in Kliniken

BMG beanstandet PPP-Richtlinie erneut nicht

(BPtK) Die überfällige Stärkung der psychotherapeutischen Versorgung von Patient*innen in psychiatrischen Kliniken bleibt weiter aus. Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hat den Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zur Änderung der PPP-Richtlinie vom 16. September 2022 erneut nicht beanstandet. Die Minutenwerte für Psychotherapie bleiben damit unverändert.

„Das BMG billigt erneut, dass die psychotherapeutische Versorgung der Patient*innen in der Psychiatrie mangelhaft bleibt“, erklärt Dr. Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK). Die Patientenvertretung im G-BA (PatV), die Bundesärztekammer (BÄK) und die Bundespsychotherapeutenkammer hatten gemeinsam gefordert, dass Patient*innen in psychiatrischen Krankenhäusern künftig in der Regelbehandlung zehn Minuten mehr Psychotherapie pro Wochentag erhalten. Aktuell stehen Patient*innen maximal 50 Minuten Psychotherapie pro Woche zu. So viel bekommen sie allerdings meist bereits in einer ambulanten Behandlung. Aufgrund der Schwere der psychischen Erkrankungen reicht diese „Dosis“ an Psychotherapie für die Patient*innen in psychiatrischen Kliniken jedoch nicht aus.

Das ist unverständlich auch angesichts der Tatsache, dass der Koalitionsvertrag vorsieht, dass im stationären Bereich für eine leitliniengerechte psychotherapeutische Versorgung und eine bedarfsgerechte Personalausstattung gesorgt werden soll. „Dieser Verschiebebahnhof muss endlich ein Ende haben. Der Gesetzgeber muss klarstellen, dass die Mindestvorgaben für die Personalausstattung eine leitliniengerechte psychotherapeutische Versorgung in Psychiatrie und Psychosomatik sicherstellen müssen. Anders sind die zwingend erforderlichen Verbesserungen der Versorgungsqualität nicht zu erreichen“, so Munz.

Der G-BA hatte in seinem Beschluss begründet, dass weitere Evidenz abgewartet werden müsse. Eine höhere Evidenz ist auch in Zukunft nicht zu erwarten. Studien, in denen unterschiedliche Therapie-intensitäten bspw. im Rahmen von RCT-Studien miteinander verglichen werden, werfen große methodische Probleme auf und werden deshalb aktuell und auch in Zukunft nicht durchgeführt werden. Der gemeinsame Vorschlag von PatV, BÄK und BPtK beruht bereits auf der am besten verfügbaren Evidenz: konsentierten Expertenmeinungen.

Auch der Verweis des G-BA auf die Umsetzungsschwierigkeiten wegen der aktuell noch ungenügenden Personalsituation in den Kliniken ist nicht nachvollziehbar. Der Vorschlag von PatV, BÄK und BPtK sah einen langsamen und schrittweisen Aufbau der Personalsituation in den Kliniken vor. Darüber hinaus gilt, dass gerade die unzureichende Personalausstattung in den Klinken und die damit verbundenen schlechten Arbeitsbedingungen den Fachkräftemangel verstärken. Für die Berufsgruppe der Psychotherapeut*innen gilt zudem, dass der durchschnittliche Umsetzungsgrad der Kliniken der Erwachsenenpsychiatrie im dritten Quartal 2022 bei 152 Prozent lag (vgl. IQTIG Quartalsbericht 3-2022, Abb. 7 [29]). Eine Erhöhung der Minutenwerte in der Berufsgruppe der Psychotherapeut*innen ist gut umsetzbar.

Psychisch kranke Menschen nicht gegeneinander ausspielen!

Offener Brief der BPtK an Bundesgesundheitsminister Lauterbach

(BPtK) In einem Offenen Brief fordert die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach auf, sich in der Diskussion um die Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen an der Evidenz und der realen Versorgungssituation zu orientieren – und nicht Behauptungen aufzustellen, die unhaltbar sind. „Die Behauptung des Ministers, dass in der ambulanten Psychotherapie vor allem ‚leichte Fälle‘ versorgt werden, ist eine Unterstellung, die jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrt“, sagt Dr. Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer.

Am 8. Februar 2023 hatte Bundesgesundheitsminister Lauterbach sich anlässlich der Vorstellung des Abschlussberichts der Interministeriellen Arbeitsgruppe „Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“ (IMA) geäußert, zusätzliche Kassensitze für Psychotherapie zu schaffen, sei nicht sinnvoll, weil diese dann lieber „leichte Fälle über längere Zeit“ behandeln wollten.

„Ihre Aussage kommt einem Schlag ins Gesicht aller Patient*innen gleich, die Hilfe bei einer Psychotherapeut*in suchen“, heißt es im dem Offenen Brief. Und weiter: „Für viele Patient*innen ist es immer noch ein schwerer Schritt, sich wegen ihrer psychischen Erkrankung professionelle Hilfe zu suchen. Es ist völlig inakzeptabel, Patient*innen gegeneinander auszuspielen und zu suggerieren, dass einige Patient*innen den Therapieplatz für andere räumen sollten.“

„Es ist verheerend, wenn der Bundesgesundheitsminister an Patient*innen das Signal sendet, sich erst dann psychotherapeutische Hilfe holen zu dürfen, wenn sie besonders schwer erkrankt sind“, kritisiert BPtK-Präsident, Dr. Dietrich Munz. „Eine solche Perspektive ist zutiefst unethisch, aber auch medizinisch und gesundheitsökonomisch völlig widersinnig! Wir fordern Sie deshalb auf, die Versorgung von allen Patient*innen mit psychischen Erkrankungen in den Blick zu nehmen und ein Ausspielen der einzelnen Patientengruppen zu unterlassen.“

Im Offenen Brief widerlegt die BPtK die Behauptungen des Ministers. Sie führt hierzu Studien und Analysen auf der Grundlage von repräsentativen Versorgungsdaten an und bittet den Minister um eine evidenzorientierte Diskussion zur Verbesserung der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung.

„Das im Koalitionsvertrag vereinbarte Ziel, die langen Wartezeiten auf einen psychotherapeutischen Behandlungsplatz zu reduzieren, muss endlich umgesetzt werden“, fordert die BPtK. Die Vorschläge des Ministers, die fehlenden psychotherapeutischen Behandlungskapazitäten allein über Sonderbedarfszulassungen und Ermächtigungen lösen zu wollen, wirkten weder schnell noch flächendeckend.

Lange Wartezeiten auf eine Psychotherapie in ländlichen Regionen Bayerns

BPtK fordert zusätzliche Psychotherapeutensitze

(BPtK) Auch in Bayern beträgt die durchschnittliche Wartezeit von der ersten Sprechstunde bis zum Beginn einer Richtlinienpsychotherapie knapp 20 Wochen (139 Tage). Die aktuellen Daten bestätigen damit die Analysen der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) auf Basis der KBV-Abrechnungsdaten von 2019. Die Hälfte der Patient*innen in Bayern wartet nach ihrem ersten Sprechstundenkontakt länger als 13,9 Wochen (Median der Wartezeit = 97 Tage) auf den Beginn der psychotherapeutischen Behandlung. Das ist eines der zentralen Ergebnisse einer aktuellen Analyse der Wartezeiten in der ambulanten Psychotherapie der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns.

Die Studie zeigt auch, dass insbesondere psychotherapiebedürftige Kinder und alte Menschen in Bayern besonders lange warten müssen. So muss die Hälfte der Kinder im Alter von 10 Jahren sowie der Erwachsenen im Alter von 64 Jahren länger als 115 Tage auf den Beginn einer Psychotherapie warten. Besonders lang waren die Wartezeiten auch in ländlicheren Regionen Bayerns. Der Median der Wartezeiten liegt in den ländlichen Kreisen im Nordosten Bayerns etwa 50 Tage über dem in München. Wenn Patient*innen mehr als eine Psychotherapeut*in aufsuchen müssen, um einen Therapieplatz zu erhalten, fallen die Wartezeiten mit einem Median von 178 Tage mehr als doppelt so lang aus wie bei Patient*innen, bei denen die erste Sprechstunde und Psychotherapie bei derselben Psychotherapeut*in erfolgen konnte (Median von 85 Tagen). Aufgrund der Methodik der Studie nicht erfasst sind die Wartezeit auf die erste Sprechstunde und die Personen, die nach einer Sprechstunde keinen Therapieplatz gefunden haben und unversorgt bleiben.

„Die langen Wartezeiten auf eine Psychotherapie in den ländlichen Regionen Bayerns für Kinder und für alte Menschen stehen stellvertretend für die unzureichende Versorgungssituation in der gesamten Bundesrepublik“, erläutert BPtK-Präsident Dr. Dietrich Munz. „Es müssen dringend zusätzliche Psychotherapeutensitze geschaffen werden, um die Wartezeiten für Patient*innen spürbar zu reduzieren.“ Die Ampel-Koalition hat im Koalitionsvertrag vereinbart, die psychotherapeutische Bedarfsplanung zu reformieren, um Wartezeiten auf einen Behandlungsplatz, insbesondere für Kinder und Jugendliche, aber auch in ländlichen und strukturschwachen Gebieten, deutlich zu reduzieren. Um dieses Ziel umzusetzen, hält die BPtK eine grundlegende Reform der psychotherapeutischen Bedarfsplanung für notwendig. Ein wichtiger Schritt ist die Absenkung der allgemeinen Verhältniszahlen für die Arztgruppe der Psychotherapeuten. Dadurch würden zusätzliche Kassensitze insbesondere in ländlichen und strukturschwachen Regionen entstehen. Außerdem sollten Psychotherapeut*innen, die ausschließlich Kinder und Jugendliche behandeln, in einer eigenen Arztgruppe geplant werden, damit das Versorgungsangebot für psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche gezielt weiterentwickelt werden kann.

Minister Lauterbach verkennt Situation psychisch kranker Kinder

BPtK fordert nachhaltige Reform der Bedarfsplanung

(BPtK) Kopfschütteln über die Äußerungen des Bundesgesundheitsministers bei der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK): Bei der Vorstellung des Abschlussberichtes der Interministeriellen Arbeitsgruppe „Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“ (IMA) äußerte Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach, nur mehr Behandlungskapazitäten für schwer psychisch kranke Kinder schaffen zu wollen. Von der im Koalitionsvertrag angekündigten Reform der Bedarfsplanung war keine Rede.

„Die Praxen unserer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen sind seit Langem überlaufen. Die aktuellen Krisen haben die schlechte Ausgangslage dramatisch verschärft. Kinder und Jugendliche warten monatelang auf einen psychotherapeutischen Behandlungsplatz oder finden gar keine Versorgung, obwohl die bestehenden Praxen während der Pandemie schon ihre Versorgungsleistung erhöht haben“, sagt Cornelia Metge, Vorstandsmitglied der BPtK und niedergelassene Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Blieben psychische Erkrankungen zu lange unbehandelt, gefährde dies die Schulfähigkeit, erhöhe das Risiko für Chronifizierung und beeinträchtige die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen, so Metge. „Es gibt keine vermeintlich leichten Fälle, die Platz machen könnten. Die Kinder und Jugendlichen, die wir tagtäglich sehen, sind alle psychisch schwer beeinträchtigt. Hier vermeintlich ‚schwerere‘ Fälle gegen ‚leichtere‘ ausspielen zu wollen, verkennt, dass gerade Kinder und Jugendliche frühzeitig behandelt werden müssen, um schwere Langzeitfolgen und gebrochene Biografien zu verhindern.“

Wiederholt setze das Bundesgesundheitsministerium (BMG) allein auf Maßnahmen wie Sonderbedarfszulassungen und Gruppentherapien und verschließe somit weiterhin die Augen vor der bitteren Realität: „Schon vor der Corona-Pandemie mussten psychisch kranke Menschen allen Alters vielerorts monatelang auf einen psychotherapeutischen Behandlungsplatz warten. Wir brauchen eine echte Stärkung der Versorgung psychisch kranker Menschen und keine rein kosmetischen Maßnahmen. Insbesondere in ländlichen und strukturschwachen Regionen müssen mehr Kassensitze zugelassen werden. Das BMG muss den Koalitionsvertrag endlich umsetzen und eine echte Reform der Bedarfsplanung im Interesse der Patient*innen angehen“, fordert deshalb BPtK-Präsident Dr. Dietrich Munz. Die Ampel-Koalition hat im Koalitionsvertrag vereinbart, die psychotherapeutische Bedarfsplanung zu reformieren, um Wartezeiten auf einen Behandlungsplatz, insbesondere für Kinder und Jugendliche, aber auch in ländlichen und strukturschwachen Gebieten deutlich zu reduzieren.

„Das BMG ignoriert damit die Ziele des Koalitionsvertrages und blendet zudem die Faktenlage aus“, so Munz. Denn mehrere Studien und Untersuchungen, die im Abschlussbericht der Interministeriellen Arbeitsgruppe „Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“ zusammengefasst sind, stellen den dringenden Handlungsbedarf in der Versorgung von psychisch kranken Kindern und Jugendlichen heraus. Des Weiteren zeigt eine aktuelle Auswertung der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns

Soziales Geschlecht, Geschlechtsidentität und Geschlechterrollen in der Psychotherapie

BPtK-Fachtag Gender & Psychotherapie

(BPtK) Inwieweit sind soziales Geschlecht, Geschlechtsidentität und Geschlechterrollen in der Psychotherapie ein Thema? Beim Fachtag Gender & Psychotherapie der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) diskutierten Expert*innen und Psychotherapeutenschaft über eine geschlechtergerechte psychotherapeutische Versorgung. Dr. Dietrich Munz, BPtK-Präsident, unterstrich, dass die BPtK die fachliche Auseinandersetzung der Profession mit dem Thema Gender und Psychotherapie noch weiter intensivieren wolle. Geschlechtsbezogene Unterschiede in der Versorgung, aber auch in der Gesundheitsförderung und Prävention sowie der Forschung müssten zukünftig besser berücksichtigt werden. Gendergerechtere Entscheidungen könnten im Gesundheitswesen getroffen werden, wenn Frauen in die Entscheidungsfindung auch gleichberechtigt einbezogen würden. Dem schlossen sich Ulrich Bestle und Juliane Sim, Sprecher*innen der BPtK-Gleichstellungskommission, in ihrem Grußwort an. Ebenso müssten Ausgrenzungen sichtbar gemacht und benannt werden. Dies erfordere Engagement und müsse das Entwickeln von Lösungen zur Folge haben.

Geschlechtsspezifische Aspekte der psychotherapeutischen Versorgung

BPtK-Vizepräsidentin Dr. Andrea Benecke stellte die geschlechtsspezifischen Aspekte in der psychotherapeutischen Versorgung heraus. In der Psychotherapeutenschaft seien drei Viertel Psychotherapeutinnen. Mit Blick auf die Patient*innen zeige sich, dass Frauen häufiger und anders als Männer von psychischen Erkrankungen betroffen sind und sich öfter psychotherapeutische Hilfe suchen. Während im Kindesalter noch bei mehr Jungen als Mädchen eine psychische Störung diagnostiziert wird, kehrt sich dies ab dem Jugendalter um. Etwa jede dritte Frau, aber nur knapp jeder fünfte Mann ist von einer psychischen Erkrankung betroffen. Frauen erkranken etwa doppelt so häufig wie Männer an Angststörungen oder Depressionen. Auch Essstörungen sind unter Frauen wesentlich häufiger verbreitet. Männer sind dagegen deutlich häufiger suchtkrank. Zudem entfallen drei Viertel der Suizide auf Männer. Es sei wichtig zu verstehen, was die Ursachen dafür sind und wie ein anderer Umgang mit Sex (biologisches Geschlecht) und Gender (soziales Geschlecht) zu mehr Gleichberechtigung, psychischer Gesundheit und einer besseren Versorgung beitragen kann.

Die unterschiedlichen Erklärungsversuche dieser geschlechterbezogenen Unterschiede schließen sich jedoch nicht aus, sondern können sich auch ergänzen, erklärte Frau Benecke. Neurobiologisch gesehen, kann ein Ungleichgewicht der chemischen Botenstoffe im Gehirn eine psychische Erkrankung auslösen, zum Beispiel bei postnatalen Depressionen. Psychologische Erklärungsansätze betonen einen unterschiedlichen geschlechtsspezifischen Umgang mit Stress, wobei Frauen eher dazu neigen, ihre negativen Gefühle zu internalisieren, Männer dagegen eher externalisieren. Aus soziologischer Perspektive entspricht es der gesellschaftlich zugewiesenen Rolle der Frauen eher, dass sie ängstlich und depressiv sind und sich Hilfe suchen. Männer wiederum „kontrollieren“ ihre Emotionen – so der Stereotyp. Sie seien aggressiv, aktiv, abenteuerfreudig, unabhängig, durchsetzungsfähig und ehrgeizig. Sozioökonomisch betrachtet sind Frauen schlechter gestellt als Männer und schon dadurch mehr psychischen Belastungen ausgesetzt, die wiederum krank machen können.

All dies führt dazu, dass Frauen ungefähr doppelt so oft wie Männer psychotherapeutische Leistungen in Anspruch nehmen. In einer Befragung über Einstellungen zur Psychotherapie aus dem Jahr 2012 gaben fast drei Viertel der Frauen an, sich vorstellen zu können, bei Problemen selbst eine Psychotherapie zu absolvieren. Bei den Männern waren es weniger als 60 Prozent.

Doing Gender in der Psychotherapie

Professorin Dr. Brigitte Schigl, Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften Krems, zeichnete nach, dass die Entwicklung der Psychotherapie und Frauenrechtsbewegungen korreliert: Während der Industrialisierung wurde die Rolle der bürgerlichen Frau als sorgende Hausfrau und Mutter, die sich selbst zurücknimmt, geprägt. Ihr wurde auch ihre Sexualität abgesprochen, was sich auch in der Freud’schen Theoriebildung widerspiegelte. In den 1960ern wurden Geschlechterrollen zunehmend kritisch hinterfragt. Dies geschah in einer Zeit, in der die Psychotherapie Eingang in die Versorgung fand und erste Ausbildungsmöglichkeiten in Europa entstanden.

Menschliches Handeln und Interagieren sei von Geschlechtszuweisungen überformt, erläuterte Schigl. Vorstellungen von Geschlecht und damit verbundene Normen prägten bereits, wie ein Kind erzogen und wie auf die unterschiedlichen Geschlechter reagiert werde. Was als typisch männlich oder weiblich gelte, seien Normvorstellungen, die von der gesellschaftlichen Sozialisation abhängen. Diese männlichen und weiblichen Stereotype seien Handlungsschablonen, auf die man zurückgreife, um sich zwischen den Geschlechterrollen zu verhalten. Genderstereotype herzustellen und zu reproduzieren sei ein aktiver Prozess. Eine zu starke Verwirklichung dieser Stereotype könne jedoch krank machen. Nicht immer sei das Kriterium Gender in sozialen Interaktionen vordergründig. Das soziale Geschlecht könne auch in den Hintergrund geraten, wenn andere Diversitätsvariablen dominierten und stereotype Verhaltensmuster anhand von Alter, Religion oder Herkunft geknüpft werden.

Das Konzept des „Doing Gender“, mit dem die Entstehung und Verfestigung des sozialen Geschlechts beschrieben werden kann, kann in der Psychotherapie ein wichtiger Ansatzpunkt sein, um psychisches Leiden anhand gesellschaftlicher Zuschreibungen erklären und gleichzeitig eine Vielfalt an Handlungsoptionen und eine größere Freiheit in Handlungsentscheidungen zu eröffnen. Doing Gender könne ein unterschiedliches Gesundheitsverhalten verursachen und erklären, und darüber Realitäten schaffen, in denen Männer und Frauen von bestimmten Krankheitsbildern unterschiedlich betroffen sind.

Doing-Gender spiele im gesamten Prozess der Psychotherapie eine Rolle. Das soziale Geschlecht beeinflusse beispielsweise, ob eine Patient*in in Eigeninitiative eine Psychotherapeut*in aufsuche oder ihre Präferenz für das Psychotherapeutengeschlecht. Bei der Diagnostik und Zielvereinbarung in der Psychotherapie oder auch bei gender-konnotierten Themen wie Sexualität, Paarbeziehungen oder auch Risikoverhalten spiele Gender eine Rolle. In der Beziehungsdynamik werde dies beispielsweise durch gefühltes Gleich- oder Anderssein, körperliche Signale und emotionale Involvierung zum Ausdruck gebracht.

Forschungsergebnisse zeigten, dass Männer und Frauen gleich gute Psychotherapeut*innen seien. Psychotherapeut*innen therapierten umso erfolgreicher und ihre Patient*innen seien umso zufriedener, je weniger konservativ die von ihnen vermittelte Einstellung zu Geschlechterrollen seien. Bei psychischen Erkrankungen, die eng an Gender-Stereotypisierungen gebunden sind, könne eine Psychotherapie einseitig gelebte Verhaltensweisen abmildern. Auch für die Resilienz sei es günstig, wenn eher gender-untypische Vorbilder des eigenen Geschlechts erlebt werden.

In der Psychotherapie müsse Gender als maßgebliche soziale Kategorie erfasst, das Wissen um genderspezifische Besonderheiten gestärkt sowie gendersensible und genderspezifische Versorgungsangebote entwickelt und implementiert werden.

Mutterschaft und Mütterlichkeit in der Psychotherapie

Mutterschaft und Mütterlichkeit würden bisher synonym verwendet. Es sei jedoch dringend notwendig, auch angesichts der fortschreitenden Reproduktionsmedizin, Mutterschaft auf die rein biologische Dimension zu beziehen und Mütterlichkeit als Beziehungs- und Fürsorgeverantwortung zu verstehen, erklärte Professorin Dr. Helga Krüger-Kirn, Universität Marburg. Würden Mutterrolle und Mutterliebe biologisch begründet, würden damit Erwartungen an Frauen gestellt, wie sie zum Wohle ihres Kindes zu handeln hätten. Bis heute werde ein heteronormatives Familienverständnis und eine naturgegebene Mütterlichkeit in Elternzeitschriften reproduziert. Die moderne Mutter stehe in einem Konflikt zwischen Mutterrolle und emanzipierter Frau, die in einem Idealbild der „Do-it-all-Mother“ münde. Dies spiegle sich auch in der psychotherapeutischen Praxis wider, da Mütter zunehmend unter den Vereinbarkeitsansprüchen zusammenbrächen. Die Schwangerschaft gelte als Zeit der psychischen Verletzlichkeit, fokussiere das Kindeswohl durch eine Vielzahl an Schwangerschaftsregeln, die zu einer Instrumentalisierung der Schwangeren führe. Dabei verdecke dies auch, unter welchen negativen sozialen und reproduktionsmedizinischen Bedingungen eine Schwangerschaft stattfinden könne, wie Armut, Gewalt oder fehlender Versorgung. Schwangerschaft könne außerdem als Phase der Zwischenleiblichkeit verstanden werden, in der zwei Körper in einem leben, aber dennoch getrennt und als Individuen zu verstehen seien. Hier könne die zugeschriebene Passivität der Schwangeren in eine kreative Form des Selbstausdrucks umgeschrieben werden. Das „Doing Mothering“ erlaube, Vorstellungen von Mütterlichkeit kritisch zu hinterfragen und zu mehr Geschlechtergerechtigkeit beizutragen. Mütterlichkeit brauche kein Geschlecht und folglich müssten daraus Konsequenzen für mehr elterliche Verteilungsgerechtigkeit gezogen werden – insbesondere in Zeiten, in denen tradierte patriarchale Familienmodelle wieder mehr Zustimmung gewinnen.

Frauenfeindliche Einstellungen männlicher Communities: Incels und Pick-up-Artists

Leichter und schneller als in der realen Welt finden sich in der digitalen Welt Männer, die sich von Frauen sexuell zurückgewiesen fühlen und deshalb gegen Frauen hetzen. Diese Involuntary celibates („unfreiwillig Zölibatäre“, Incels) seien Männer, die sich durch eine extreme, bösartige Ausdrucksform von heteronormativer Männlichkeit und der strukturellen Ablehnung des Weiblichen auszeichnen, erklärte Professor Dr. Rolf Pohl, Arbeitsgemeinschaft Politische Psychologie an der Leibniz Universität Hannover. Ihre Hauptantriebskraft bestehe aus dem Hass und der Abscheu gegenüber Frauen und speist sich aus dem, was Frauen Männern angeblich antun. Dies müssten die Frauen büßen, bis hin zu ihrer Ermordung. Dabei verstünden sich Incels selbst nicht als bösartig, in ihren Augen liegt das Böse in der Frau und dem feministischen Zeitgeist. Dieses paranoide Feindbild, die Vorstellung einer Feminisierung der Kultur und Schwächung des europäischen Mannes, zeige sich auch in der Ideologie und den Rollenbildern der neuen Rechten. Aus Sicht der Incels seien Frauen ein kollektives sexuelles Objekt. Das auf Frauen gerichtete sexuelle Begehren des Mannes mache den Mann abhängig von der Frau und mache ihn dadurch schwach, da er einem unausweichlichen Dilemma unterliege: dem männlichen Autonomieanspruch versus der Abhängigkeit von der Frau. Die Feindseligkeit der Incels gegenüber Frauen richte sich daher auch auf das Bestrafen der Frau für die erzeugte Abhängigkeit des Mannes. Incels seien aufgrund ihres Gewaltpotenzials eine reale Gefahr für Frauen.

Zu den frauenfeindlichen männlichen Communities gehörten auch die Pick-up-Artists, eine sektenähnliche Gemeinschaft, die sich als Verführungskünstler verstehen. Sie teilen Frauen in Kategorien entsprechend ihrer Attraktivität ein und reduzieren Frauen darauf, welche den Pick-up-Artists würdig, unwürdig oder unerreichbar seien. Aus Sicht der Pick-up-Artists manipulierten Frauen die Männer, um sie an sich zu binden und auszubeuten. Für Frauen sei das Verhalten der Pick-up-Artists irritierend und hoch verunsichernd. Pick-up-Artists träfen sich in Gruppen, um ihre manipulativen Techniken anzuwenden und sich gegenseitig in ihrem sexistischen Verhalten gegenüber Frauen zu bestätigen. Nicht selten münde das in einem Wettbewerb, wer die meisten Frauen mit den höchsten Punktwerten verführt.

Geschlechterungerechte Digitalisierung: Gender-Bias und Künstliche Intelligenz

Brigitte Strahwald, Koordinatorin der Pettenkofer School of Public Health an der Universität München, verdeutlichte, welche Bedeutung vollständige, unvollständige oder fehlende Daten für die genderungerechte Entwicklung von Künstlichen Intelligenzen in der Gesundheitsversorgung haben. Am Beispiel einer Roboter-Psychotherapeut*in in Form eines automatisierten Konversationsprogramms für das Internet (Chat-Bots) illustrierte sie, dass Sprachprogramme männliche und weibliche Zuschreibungen vornehmen. Diese könnten Stereotypen folgen, aber auch Annahmen von Gleichheit oder Unterschiedlichkeit treffen. KI-Algorithmen benötigten eine möglichst große Datenmenge, um daraus extrapolieren zu können und bei neuen Daten richtige Ergebnisse zu erzielen, indem sie kontinuierlich dazulernten. Wenn Daten jedoch nicht vollständig seien und Gender bei Diagnosen und Therapien nicht beachtet werde, könnten diese durch die KI nicht erkannt werden. So setzten sich Fehler fort und würden durch die Künstliche Intelligenz sogar „optimiert“ werden. Fehlende Studien mit Differenzierung nach Geschlecht, die Auswahl von Forschungsthemen und -fragen oder fehlende Genderspezifika in Klinik und Praxis trügen dazu bei, dass Algorithmen strukturelle Probleme reproduzierten. Von der Idee, dass künstliche Intelligenz objektiver sei, könne derzeit nicht ausgegangen werden; momentan habe sie eher ein nicht zu unterschätzendes Potenzial der Verzerrung. Zudem gebe es für non-binäre Personen gar keine Daten. Dabei habe Künstliche Intelligenz grundsätzlich das Potenzial, Gendergerechtigkeit zu schaffen und Fehldiagnosen und -behandlungen zu reduzieren. Die Initiative „sheHealth“ setze sich daher dafür ein, das Gesundheitswesen auf allen Ebenen gendergerechter zu machen. Für gute Algorithmen sei die Berücksichtigung des Doing-Gender essenziell, aber auch kulturelle, soziologische Aspekte müssten einbezogen werden. Auch Psychotherapeut*innen müssten mitgestalten, um gute Künstliche Intelligenzen zu entwickeln.

Psychotherapeutische Versorgung von Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung

Die deutsche Sprache sei sehr begrenzt, um geschlechtliches Erleben abzubilden, erklärte Dr. Katinka Schweizer, Professorin an der privaten Medical School Hamburg. Bei der Geburt sei das soziale Geschlecht nicht erkennbar, die Entwicklung der Geschlechtsidentität werde durch Einstellungen und Bewertungen der Gesellschaft stark beeinflusst. In den vergangenen Jahren sei die Gesellschaft schon ein Stück vorangekommen, in dem selbstbeschreibende Begriffe für Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung verwendet und abwertende Fremdbezeichnungen zunehmend abgelegt würden. Die Erarbeitung der Leitlinie zu Varianten der Geschlechtsentwicklung sei wegweisend gewesen, weil hier die Selbsthilfe- und Patientenorganisationen einbezogen worden seien. Eine Unterscheidung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht sei notwendig und ermögliche es, zwischen Geschlechtsidentität, Geschlechtsrolle und sexueller Orientierung zu differenzieren.

Was ist die Geschlechtsrolle und wie die Geschlechtsidentität? Wenn diese Frage in der Psychotherapie gestellt werde, erlaube dies den Patient*innen sich hierzu zu äußern. Bei einer von 2.000 bis 4.000 Geburten komme ein Kind mit einer von über 50 bekannten Varianten der Geschlechtsentwicklung auf die Welt. Für die psychotherapeutische Versorgung dieser Patientengruppe sei es notwendig, dass das Wissen um diese Varianten der Geschlechtsentwicklung gestärkt werde und mehr Expert*innen zur Verfügung stünden. Die „optimal gender policy“ sei überholt, denn die Vorstellung von eindeutigen und stabilen Geschlechtsidentitäten sei nicht tragbar. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie und die Entwicklung eines zunehmenden Verständnisses von sich selbst seien daher zentral. Für die Versorgung von Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung sei es auch wichtig, dass sie psychosoziale Versorgung ab der ersten Diagnostik erhalten. Dies sei bisher jedoch noch nicht ausreichend sichergestellt, obwohl dies Unterstützung für Personen böte, ihre Geschlechtsidentität zu entwickeln, als auch bei der Frage, ob und welche medizinischen Eingriffe die Person für sich wünscht und vornehmen lassen möchte. Psychotherapeut*innen könnten insbesondere auch im Rahmen der Kommission, die über medizinisch notwendige Eingriffe bei Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung entscheide, aktiv dazu beitragen, dass operative Eingriffe kritisch hinterfragt werden.

Podiumsdiskussion: Wie kann der Gender Health Gap überwunden werden?

Dr. Christina Tophoven, BPtK-Geschäftsführerin, moderierte die Podiumsdiskussion, bei der Vertreter*innen der Bundespolitik sowie Krankenkassen und Verbände debattierten, worin der Gender Health Gap sich äußere und wie dieser überwunden werden kann.

Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Grünen-Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, kritisierte, dass in medizinischen Lehrbüchern grundsätzlich nur Männer abgebildet würden, mit Ausnahme der Reproduktionsmedizin. Deutlich werde der Gender Health Gap auch bei der Care- und Sorgearbeit, denn Frauen seien während der Corona-Pandemie häufiger und stärker belastet gewesen als Männer, was sich auch in einem Anstieg an Ängsten, Depressionen und Suiziden zeige. Genderstereotype engten Menschen ein, machten krank und müssten grundsätzlich überdacht werden. Eine verbindliche Quote in der Selbstverwaltung des Gesundheitswesens sei wichtig, denn es mache einen qualitativen Unterschied, ob alle Geschlechter in allen Gremien abgebildet seien oder nicht. Für ein gendergerechteres Gesundheitswesen seien paritätisch besetzte Entscheidungsgremien und gendersensible Gesundheitsforschung notwendig.

Für Kristine Lütke, FDP-Bundestagsabgeordnete, zeige sich der Gender Health Gap nicht nur in der Versorgung, sondern auch in der Planung und Verwaltung des Gesundheitswesens. Hier blicke man noch auf eine Blackbox, wo genderspezifische Herausforderungen bestehen. Sehr spürbar seien Geschlechterungerechtigkeiten mit Blick auf die Altenpflege, in der mehrheitlich Frauen arbeiten und diese psychisch stärker belastet seien. Die paritätische Besetzung von Gremien im Gesundheitswesen sei im Koalitionsvertrag vereinbart, aber man müsse auch darüber hinaus strukturelle Ungerechtigkeit abbauen, etwa beim Gender Pay Gap oder der Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Karrierepositionen. Das gesellschaftliche Bewusstsein müsse für Missstände weiter geschärft werden, damit echte Gleichstellung erfolgen könne. Auch Gleichstellungschecks bei der Gesetzgebung befürwortete Lütke.

Gendergerechte Gesundheitsversorgung sei kein neues Thema, mahnte Ulrike Hauffe, stellvertretende Vorsitzende des BARMER-Verwaltungsrates. Es sei vielmehr eine Kontinuität, dass die Bedarfe und Bedürfnisse von Frauen missachtet und die Konsequenzen dieser Missachtung ignoriert würden. Quotierungen im Gesundheitswesen seien sinnvoll, denn es gebe Frauen, die diese Positionen besetzen könnten und auch wollten. Kritisch sei, dass in der Vergangenheit Wahlen vorgezogen worden seien, damit Männer ihren Machterhalt sichern konnten. Das freiwillige Aufgeben der Machtpositionen finde eindeutig nicht statt. Medizinische Leitlinien müssten gendersensibel erarbeitet werden und dazu müsse auch gendersensible Forschung stärker in den Fokus gerückt werden. Mehr Geschlechtergerechtigkeit könne nur durch konsequente Vorgaben erreicht werden, wie einer Quote. Die Geschlechterfrage müsse überall gestellt werden, vom Selbstverwaltungssystem bis zur Entwicklung von digitalen Gesundheitsanwendungen.

Dr. Christine Groß, Deutscher Ärztinnenbund, erläuterte, dass es männlichen Patienten häufig schwierig zu vermitteln sei, dass sie an einer Depression erkrankt seien, weil dies nicht in das Männlichkeitsbild passe. Aufklärung bedürfe es jedoch auch unter Mediziner*innen, dass die Symptome einer Depression sich bei Männern und Frauen unterschiedlich äußerten. Zwar seien die Vorstände der Ärztekammern deutlich weiblicher geworden, für die Kassenärztlichen Vereinigungen würden sich jedoch noch zu wenig Frauen bewerben, was auch an der Mehrfachbelastung von Frauen läge. Häufig würde bei Wahlen auch auf die Erfahrung geschaut, die jemand schon im Amt erworben habe, was Wiederwahlen begünstige. Am Beispiel des Marburger Bundes zeige sich, dass über eine Quotierung auch Frauen in Spitzenpositionen gewählt würden, die dann bei den nächsten Wahlen auch bestätigt werden könnten. Der Gender Pay Gap zeige sich in den medizinischen Fächern insbesondere in der Pädiatrie und Psychiatrie (wo der Frauenanteil besonders hoch ist), die schlechter vergütet werden als hoch technologisierte Fächer wie die Labormedizin (wo der Männeranteil besonders hoch ist). Die Approbationsordnung der Ärzteschaft müsse Genderaspekte endlich besser abbilden und auch verpflichtende Weiterbildungsangebote müssten vorgesehen werden. Die medizinischen Leitlinien müssen gendersensibel werden.

Mit der Erklärung, dass Männer nicht gut über Gefühle sprechen könnten und deshalb keine Psychotherapie beanspruchten, mache man es sich zu einfach, erklärte Dr. Andrea Benecke, BPtK-Vizepräsidentin. Geschlechtsspezifische Normen und Rollenbilder seien immer noch mächtig und fehlende Gendersensibilität führe über unterschiedliche Wege dazu, dass Patient*innen unterversorgt blieben oder fehl- wie auch überversorgt würden. Mit einem geschlechtersensiblen Blick böten sich Chancen, das Gesundheitssystem gerechter zu gestalten und dafür müssten Frauen einbezogen werden. In der neu verabschiedeten Musterweiterbildungsordnung seien geschlechts- und kultursensible Aspekte als verbindliche Inhalte niedergelegt. Eine gendersensible Psychotherapie müsse zukünftig der Versorgungsstandard sein. Mit Blick auf die Veränderung von Institutionen verwies sie auf die Erfahrungen der BPtK, wo es inzwischen kein Problem sei, Quoten zu erfüllen, da immer mehr junge Frauen für Ämter kandidierten. Viele Landespsychotherapeutenkammern hätten in ihren Satzungen eine paritätische Besetzung ihrer Organe festgelegt, was sehr zu begrüßen sei. In der Forschung sei es wichtig, dass die Perspektive von Frauen kontinuierlich stärkere Berücksichtigung erfahre. Analoge Erfolge der Gleichstellung müssten sich auch in der Digitalisierung des Gesundheitswesens widerspiegeln und dürften durch fehlende Daten und sich dadurch perpetuierende Fehler nicht wieder eingerissen werden.

Koalitionsvertrag jetzt umsetzen und Wartezeiten reduzieren!

BPtK zur Kleinen Anfrage der Unionsfraktion

(BPtK) Dass Menschen mit psychischen Erkrankungen hierzulande lange auf eine ambulante Psychotherapie warten müssen, ist ein schon seit Jahren bekanntes Versorgungsproblem. Deshalb zielt der Koalitionsvertrag hier auf Verbesserungen ab. Um die Engpässe in der Versorgung zu überwinden, setzt die Bundesregierung wohl dennoch auf Instrumente der Einzelfallentscheidung. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Unionsfraktion zur „Zukunft der psychotherapeutischen Versorgung“ (BT-Drs. 20/5106) hervor. „Ermächtigungen und Sonderbedarfszulassungen können das strukturelle Problem von fehlenden Kassensitzen insbesondere in ländlichen und strukturschwachen Regionen nicht lösen“, sagt Dr. Dietrich Munz. Der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) betont: „Wir brauchen eine echte Reform der Bedarfsplanung, die eine zeitnahe und wohnortnahe Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen sicherstellt. Insbesondere für Kinder und Jugendliche, ältere oder sozial benachteiligte Menschen sind lange Anfahrtswege in die Psychotherapie-Praxis nicht machbar.“

„Ein gesetzlicher Auftrag an den Gemeinsamen Bundesausschuss, die Bedarfsplanungs-Richtlinie zu überarbeiten, um Wartezeiten abzubauen, ist längst überfällig. Die Bundesregierung muss endlich den Koalitionsvertrag umsetzen“, fordert BPtK-Präsident Dr. Dietrich Munz. Die Ampel-Koalition hat im Koalitionsvertrag vereinbart, die psychotherapeutische Bedarfsplanung zu reformieren, um Wartezeiten auf einen Behandlungsplatz, insbesondere für Kinder und Jugendliche, aber auch in ländlichen und strukturschwachen Gebieten deutlich zu reduzieren. Um dieses Ziel umzusetzen hält es die BPtK für notwendig, die allgemeinen Verhältniszahlen für die Arztgruppe der Psychotherapeuten um mindestens 20 Prozent abzusenken. Dadurch würden rund 1.600 zusätzliche Kassensitze insbesondere in ländlichen und strukturschwachen Regionen entstehen. Außerdem sollten Psychotherapeut*innen, die ausschließlich Kinder und Jugendliche behandeln, in einer eigenen Arztgruppe geplant werden, damit das Versorgungsangebot für psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche gezielt weiterentwickelt werden kann.

Die Wartezeit vom Erstgespräch bis zum Therapiebeginn beträgt durchschnittlich 142,4 Tage. Das zeigen die objektiven Abrechnungsdaten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zu den gesetzlich Krankenversicherten, die im 1. Quartal 2019 ihr Erstgespräch erhalten haben. 40 Prozent der Patient*innen, die im 1. Quartal ihr Erstgespräch hatten, konnten ihre Therapie frühestens im 3. Quartal 2019 beginnen, mehr als zehn Prozent sogar erst ein ganzes Jahr später.

Diotima-Ehrenpreis 2022 verliehen

Langjährige BPtK-Geschäftsführerin Dr. Christina Tophoven geehrt

(BPtK) Am 17. November erhielt Dr. Christina Tophoven den Diotima-Ehrenpreis der deutschen Psychotherapeutenschaft 2022. BPtK-Präsident Dr. Dietrich Munz ehrte die BPtK-Geschäftsführerin für ihr langjähriges Engagement beim Aufbau und der Etablierung der Bundeskammer als starke Interessenvertretung aller Psychotherapeut*innen. Die Festveranstaltung fand im Silent Green in Berlin statt, zu der sich die Psychotherapeutenschaft, ehemalige Diotima-Ehrenpreisträger*innen sowie Vertreter*innen aus Gesundheitspolitik und Selbstverwaltung zusammenfanden.

Sozialkompetenz des Gesundheitssystems erhöhen

BPtK: Gesundheitskioske für psychisch kranke Menschen erproben

(BPtK) „Dem deutschen Gesundheitssystem fehlt Sozialkompetenz. Für Menschen mit geringen Einkommens- und Bildungsressourcen ist es häufig viel zu komplex und nicht selten undurchschaubar. Das Gesundheitssystem muss verständlicher und Barrieren, die ausgrenzen, müssen abgebaut werden“, stellt Dr. Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) fest. „Deshalb sollten Gesundheitskioske erprobt werden, auch für psychisch kranke Menschen. Gerade Menschen in Armut, mit geringer Bildung, in Arbeitslosigkeit und mit ungenügender sprachlicher oder gesellschaftlicher Teilhabe könnte entscheidend dabei geholfen werden, Angebote zur psychischen Gesundheit zu nutzen.“

Präventionsleistungen durch kooperierende oder angestellte Psychotherapeut*innen können zum Angebot der Gesundheitskioske zählen. Kitas oder Schulen könnten spezifische Gruppenangebote in Kooperation mit Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen anbieten. Viele psychisch kranke Menschen brauchen gleichzeitig eine Behandlung aber auch Beratung und Unterstützung, zum Beispiel durch die Jugendhilfe, die sozialpsychiatrischen Dienste, Drogen- und Sucht- oder auch Schuldnerberatung. Gesundheitskioske könnten psychisch kranken Menschen zur Seite stehen, Termine bei Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen zu bekommen und auch wahrzunehmen und so Behandlung überhaupt ermöglichen. Schließlich könnten Psychotherapeut*innen und Ärzt*innen ihre Patient*innen zu Gesundheitskiosken überweisen, wenn aufgrund sozialer Bedürfnisse und Belastungen eine psychotherapeutische oder ärztliche Beratung und Behandlung nicht ausreicht oder erschwert ist (Konzept des „social prescribing“).

Gesundheitskioske müssen bestehende Strukturen ergänzen und nutzen. Damit sie funktionieren, müssen Kommunen und das Gesundheitssystem aber zusätzliche finanzielle und personelle Ressourcen zur Verfügung stellen und zur Kooperation miteinander bereit sein. „All das muss in Modellprojekten erprobten werden“, erklärt BPtK-Präsident Munz. „Mehr Sozialkompetenz wird es nicht zum Nulltarif geben.“

Möglichkeit eines Psychotherapeutenwechsels zentral für die Qualität

GKV-Spitzenverband setzt Desinformations-Kampagne fort

(BPtK) Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen setzt seine Desinformations-Kampagne auf Basis einer methodisch ungenügenden Befragung fort. Danach haben rund 37 Prozent der Patient*innen schon einmal die Psychotherapeut*in gewechselt. Dies ist nicht erstaunlich, da rund ein Viertel der Patient*innen, die innerhalb eines Jahres eine Psychotherapie beginnen, sich nach der Sprechstunde noch eine andere Psychotherapeut*in suchen müssen, weil ihre erste Ansprechpartner*in auf Monate keinen freien Behandlungsplätze anbieten kann. Erneut hat der GKV-Spitzenverband seine Befragten nicht ausreichend darüber informiert, was die Unterschiede zwischen telefonischem Erstkontakt, psychotherapeutischer Sprechstunde, probatorischen Sitzungen, Absprache des ersten Behandlungstermins und Beginn der psychotherapeutischen Behandlung sind. „Eine Qualitätssicherung brauchen nicht die Psychotherapeut*innen, sondern die Umfrageinstitute, die für den GKV-Spitzenverband Fragebögen erstellen“, stellt Dr. Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), fest. „Seine Befragungen erfüllen nicht einmal die grundlegenden methodischen Standards.“

Die bereits veröffentlichen Befragungsergebnisse hatten gezeigt, dass die Patient*innen hierbei nicht zwischen den probatorischen Sitzungen und der eigentlichen Behandlung unterschieden haben. Ein Großteil der Befragten hatte angegeben, dass sie die Therapie innerhalb weniger Tage nach dem Erstgespräch begonnen hätten – zu einem Zeitpunkt also, zu dem lediglich die vorgeschriebenen probatorischen Sitzungen durchgeführt, aber noch keine Behandlungen begonnen werden können. „Der GKV-Spitzenverband hatte hier bereits Daten veröffentlicht, von denen er wissen musste, dass sie nicht stimmen können“, kritisiert BPtK-Präsident Munz. Auch in seiner jüngsten Veröffentlichung verschleiert der GKV-Spitzenverband, wie viele Patient*innen tatsächlich befragt wurden. Pro Jahr beginnt weniger als ein Prozent der GKV-Versicherten eine Psychotherapie bei einem niedergelassenen Psychotherapeuten. Das wären für die angegebene Panel-Befragung insgesamt nicht einmal 20 Patient*innen.

Grundsätzlich kommt der GKV-Spitzenverband selbst nicht darum herum zu konstatieren, dass die Patient*innen mit ihren Psychotherapeut*innen überdurchschnittlich zufrieden sind. Rund 80 Prozent der Patient*innen sind danach mit ihrer aktuellen Psychotherapeut*in vollkommen oder sehr zufrieden, weitere 17 Prozent sind zufrieden und nur drei Prozent geben an, dass sie unzufrieden sind. „Das sind Zufriedenheitswerte, die in der Gesundheitsversorgung ihresgleichen suchen“, erklärt Munz.

Psychotherapeutische Sprechstunden und probatorische Sitzungen sind gerade dafür da, dass Patient*in und Psychotherapeut*in gemeinsam prüfen, ob die Chemie stimmt. Dies ist für den Erfolg einer Behandlung entscheidend. Eine vertrauensvolle Beziehung ist sehr wichtig, weil in einer Psychotherapie häufig schmerzhafte oder schambesetzte Erlebnisse und Erinnerungen besprochen werden müssen. „Deshalb haben Patient*innen auch die Möglichkeit, erste Gespräche bei verschiedenen Psychotherapeut*innen durchzuführen“, erläutert der BPtK-Präsident. „Die Möglichkeit, verschiedene Psychotherapeut*innen auszuprobieren, ist eine wichtige Grundlage für die Qualität der psychotherapeutischen Behandlung.“